The exhibition CENTRO DI GRAVITÀ PERMANENTE is a project by Matthias Esch and Manuel Kirsch • curated by Rosali Wiesheu• opening reception: Tuesday, July 5th, 7 pm • opening hours: by appointment +49 (0) 157 303 45 737 • until July 24th


Der französische Theoretiker Michel Foucault führt am Schluss des dritten Teils seiner 1969 publizierten Archäologie des Wissens den Begriff des historischen Apriori ein. Foucault fragt sich, worin die „Bedingungen des Auftauchens von Aussagen“ liegen und stellt fest, dass diese immer schon in einem sozio-historisch kodierten Kontext verortet sind, dass wir alle in eine bestimmte Perspektive auf die Welt hineingeworfen sind, die uns durch Kultur, Eltern, Bildung, Kunst, Politik und Literatur implizit oder explizit vermittelt wird.

Die Berliner Künstler Matthias Esch (*1988) und Manuel Kirsch (*1986) nehmen die Frage nach dem Verwurzeltsein in einer bestimmten Perspektive, einer bestimmten künstlerischen und kulturellen Tradition, zum Ausgangpunkt ihrer ästhetischen Untersuchung. Unter dem Titel Centro di gravità permanente verwandeln sie den Ausstellungsraum in eine raumgreifende Installation, die ein Spannungsfeld zwischen der Wand als plastischem Untergrund und historischem Hintergrund für ihre aktuellen malerischen Arbeiten etabliert.

Auf den beiden Ausstellungswänden finden sich vier reduzierte, antike Säulenformationen gezeichnet, die den Raum illusorisch erweitern. Die Wandmalerei evoziert auf metaphorischer Ebene die immer schon gegebene Verortung der beiden Künstler in einem westlich geprägten Kulturkanon, dessen dominanter Ausgangspunkt die griechische und römische Antike darstellt und die sich heute neben der Zentralperspektive in der Kunst vor allem als gesellschaftlicher Atavismus in der dekorativen Ausgestaltung von Restaurants mit kulinarischem Italien-Schwerpunkt wiederfindet. Auf funktionaler Ebene lenkt die Säulenformation durch ihre räumliche Perspektivierung den Blick des Betrachters auf die beiden ca. 190 x 150 cm großen Arbeiten der Künstler. Diese können als behutsamer Versuch gelesen werden, sich von den Mustern ihrer Prägung loszulösen und eine neue Perspektive für die eigene Wahrnehmung zu ermöglichen. Wo Matthias Esch dafür auf die Interaktion von Wort und Bild zurückgreift, wendet sich Manuel Kirsch einer Untersuchung von Alltagsmaterialien und ihrer prozesshaften Verfremdung zu.  

Matthias Esch zeigt unter dem Titel Looking for thee word (rosebud) ein in dunklem Ölpastell auf Leinwand und Tempera gemaltes, mandalahaft anmutendes Zeichen aus Kreis und Halbkreisen, um das fünf rote Formgebilde kreisen, die auf der linken Seite des Bildes von einer schmalen Linie aus Klebeband begrenzt werden. Der Titel ist ein Zitat aus Citizen Kane, das Selbiger auf seinem Sterbebett leise vor sich hin murmelt. Wörter, Sätze, Titel sind für den Künstler Vehikel und Fixiermittel zugleich, sie erhellen die Bilder, die sie benennen und verschleiern ihre Bedeutung gleichermaßen. Sie sind ein Mittel, einer bestimmten Perspektive zu entgleiten und den Bildraum zu öffnen für eine unendliche Anzahl möglicher Lesarten.  „Das Wort lenkt das Bild, schiebt es, hebt es auf, entlastet es, könnte dabei auch nach Jahren noch geändert werden. Dann entstünde das Bild nach Jahren neu.“ (Matthias Esch, Kat. Ausst. Quelltext, Brandenburgischer Kunstverein 2016) 

Manuel Kirsch präsentiert einen 190 x 155 cm großen Siebdruck auf Baumwolle aus der Serie DKA (Danke Körper Arbeit), der das Resultat eines Übersetzungs-prozesses darstellt. Ausgangspunkt der Arbeit ist die Skizze vom Linienverlauf einesBlattes einer Klopapierrolle. Diese Linien haben sich im Prozess des Abzeichnens zum Teil verselbstständigt und neue Muster auf der Papieroberfläche ergeben, die Kirsch in die Vorlage für den Siebdruck übernommen hat. Durch das Aufziehen des Drucks auf einen Keilrahmen entstanden zusätzliche Spuren auf der Bildwand, so dass die Arbeit den permanenten Transformationsprozess visualisiert, aus dem heraus sie entstanden ist. Den Künstler interessiert die Verschiebung von Alltagsobjekten in den Kontext der Kunst und die Frage nach dem so geschaffenen Zwischenraum, der die Möglichkeits-Zone einer neuen Seherfahrung für den Betrachter markiert. Dieser wird zum Spurensucher einer Ursprungsmaterialität, die er immer nur erahnen kann, auch wenn er wie ein Archäologe die verschiedenen Schichten ihrer Veränderung rekonstruiert.

Die großformatigen Arbeiten von Matthias Esch und Manuel Kirsch hängen leicht verschoben im Zwischenfeld der Säulenreihen und überschreiten die Wandmalerei gleichzeitig, da das jeweilige untere Bildfeld der beiden Arbeiten bewusst aus dem Bereich der illusorischen Raumerweiterung heraustritt, die sich ebenfalls in einer Verschiebung von der Wand bis über einen Teilbereich der Decke erstreckt.  -Can we ever escape our own perspective?-  Die Frage bleibt offen. Die Ausstellung stellt den Versuch dar, Foucaults historisches Apriori, den Kontext, der uns umgibt und sich in uns einschreibt, mitzudenken und dieses Denken zu visualisieren; in diesem Fall als historischen Hinter- und plastischen Untergrund der eigenen Arbeiten.

 

Rosali Wiesheu